Kundenorientierung: Der Bohrer, oder das Loch in der Wand, oder…?

“Die Leute wollen keinen Viertelzoll-Bohrer kaufen, sie wollen ein Viertelzoll-Loch.” – Theodore Levitt (zit. nach Clayton M. Christensen, Michael E. Raynor. The innovator’s solution, p.99)

Dieser Spruch wird oft verwendet, um zu verdeutlichen, dass sich Firmen nicht auf ihre Produkte sondern auf den Kundennutzen konzentrieren sollen.

Das Beispiel mit dem Bohrer ist eingängig. Man muß aber noch wesentlich weiter gehen: Warum will der Kunde ein Loch in der Wand? Es geht dem Kunden eigentlich nicht um das Loch in der Wand, sondern um das, was er dort anbringen will. Was ist das - ein Poster? ein Ölgemälde? ein Regal? Und auch damit sind wir noch nicht am Ende mit den Warum-Fragen. Welchen Zweck soll das Regal erfüllen?

Fragen Sie fünfmal, warum jemand bei Ihnen kauft

Der Kunde kommt oft mit der Lösung (“Ich brauche einen Viertelzoll-Bohrer”) und ist dann mehr oder weniger zufrieden, wenn er das Gewünschte bekommt. Das funktioniert auch gut, solange das Umfeld stabil ist.

Wenn Sie aber neue Wettbewerber und neue potenzielle Geschäftsfelder entdecken wollen, müssen Sie weiterfragen. Warum kauft der Kunde bei Ihnen? Mit jeder Antwort eröffnen sich Alternativen zu Ihrem Angebot:

  • Statt Bohrer X kann man natürlich Bohrer Y kaufen
  • Statt ein Loch zu bohren, kann man ein Poster auch ankleben
  • Statt die Wand mit einem Poster zu dekorieren kann man mit einem Beamer etwas darauf projizieren
  • Statt das Regal selbst anzubringen, kann man auch einen Service dafür in Anspruch nehmen
  • Das Problem “ungemütliches Wohnzimmer” kann man auch (zeitweise) lösen, indem man woanders hingeht, z.B. in einen coffee shop

Wenn man lange genug weiterfragt, kommt man schließlich immer auf ein paar Grundbedürfnisse (Nahrung, Sicherheit, emotionale Bedürfnisse,…). Im B2B begegnet man unterwegs den klassischen drei Zielen: Einnahmen steigern, Kosten senken, Risiken verringern; dazu kommen noch die gerade genannten persönlichen Bedürfnisse des Entscheiders. Und wenn das Kundenunternehmen noch einen Daseinszweck hat, der über die Gewinnerzielung hinausgeht (eine Mission), dann sollte dieser ganz am Ende der Warum-Kette stehen.

Der Wettbewerb ist entlang der Warum-Kette

Zugegeben, einige Alternativen zum Viertelzollbohrer werden einem nicht direkt im Baumarkt in den Sinn kommen. Dennoch, wer sich fragt “Wo ist meine Konkurrenz”, der darf nicht nach Branchen sortieren, sondern muss den “Job to be done” – das eigentliche Kundenproblem – in den Blick nehmen. Aus dieser erweiterten Perspektive enstehen Ideen für neue Angebote und ergänzende Dienstleistungen.

Viele Geschäftsmodelle sind in Jahrzehnten bewährte Kombinationen, etwa

  • Verkauf von modischen Accessoires zu Preisen zwischen 5 und 10 Euro
  • Ladengeschäfte in 1-a-Lagen mit 40-100qm Fläche
  • Sortiment von ca. 10000 Artikeln
  • eigene Produktion in Asien, Direktimport

Abwandlungen wurden sicher im Laufe der Jahre ausprobiert (höherpreisiges Sortiment, größere oder kleinere Fläche, …), wir können aber davon ausgehen, dass das gegenwärtige Geschäftsmodell ein lokales Optimimum darstellt.

Technologische Innovationen führen nun dazu, dass neue Geschäftsmodelle wirtschaftlich sinvoll werden. Ein Beispiel:

  • Marktplatz für modische Accessoires zu Preisen zwischen 5 und 100 Euro
  • Sortiment von 10 Mio Artikeln
  • ausschließlich Online-Verkauf, keine Ladengeschäfte
  • keine eigene Produktion
  • Produkte werden durch hunderttausende Kleinanbieter hergestellt bzw. verkauft
  • keine Lagerhaltung
  • 3,5% Transaktionsgebühr, 4% Gebühr für Zahlungsabwicklung

Das erste Geschäftsmodell gehört zu Bijou Brigitte, das zweite zu Etsy. Beide werden von Kundinnen als Lösung für dieselben “Jobs to be done” angesehen:

  • ein passendes Schmuckstück zum neuen Kleid finden
  • sich belohnen
  • Accessoires für die Hochzeit finden
  • etwas Schönes verschenken
  • u.v.m

Im Geschäftsbericht 2015 der Bijou Brigitte modische Accessoires Aktiengesellschaft lesen wir:

Wettbewerb Modeschmuck

Das Wettbewerbsumfeld hat sich im Geschäftsjahr 2015 nicht wesentlich verändert, da immer wieder neue Wettbewerber in den Markt eintreten bzw. diesen verlassen. Modefilialisten, Kaufhäuser und Modeschmuckanbieter sorgen wie im Vorjahr für einen regen Wettbewerb.

Das ist die klassische Sicht auf den Wettbewerb, bei der branchenfremde Konkurrenz ignoriert wird. Es sollte aber hinreichend deutlich geworden sein, dass diese Sicht zu eingeschränkt ist. Weiter lesen wir:

Zudem wurde 2014 die erste Do-it-Yourself Filiale mit dem Namen „the P. cookery“ in Hamburg eröffnet. Dort können die Kunden ihre eigenen Schmuckstücke kreieren.

Ist das vielleicht schon eine Reaktion auf Etsy, DaWanda und Co?

Was bleibt? Das Kundenbedürfnis (Job to be done) ändert sich wesentlich langsamer als die zugehörigen Geschäftsmodelle. Wer das Kundenbedürfnis versteht, und Innovationen sinnvoll nutzbar macht, kann neue, überlegene Geschäftsmodelle entwickeln.